Roots and Reign (1)

„Der Erste vermag zu nicht zu sehen, was der Letzte wird erkennen.“
Buch der Weisheit, Harakon I., 912 n. Theodis

 

Seine Zehen schauten wieder am Ende der Decke hervor. Ein Platz für den Schmetterling, der durch das offene Fenster herein geflogen war. Jamir blinzelte etwas, um sich an das Sonnenlicht zu gewöhnen. Es roch nach Frühling. Er atmete tief ein. Der Duft durchdrang seine Nase. Es kribbelte. Jamir war einfach einen Moment glücklich.

Er öffnete seine Augen und sah den Schmetterling, der zum Flug ansetzte. Seine rot-gold schimmernden Flügel hatten etwas majestätisches. Die Sonnenstrahlen schienen durch sie hindurch. Ein zufriedenes Lächeln zierte Jamirs Gesicht.

Jamir konnte sich Zeit lassen. Heute war Feiertag in Osokur und die Feierlichkeiten würden erst gegen Abend beginnen. Er richtete sich auf und drehte seine Füße Richtung Fußboden. Seine Pantoffeln standen bereit. Erst kürzlich ließ er sie sich von Onquin anfertigen, dem wohl besten Schuhmacher der Region. Jamir mochte dieses Gefühl, wenn er die Gemütlichkeit der Nacht noch ein wenig mit in den Tag tragen konnte.

Über den Dielenboden lief er in Richtung Küche, um erst einmal einen Blick aus dem großen Panoramafenster werfen zu können. Auf dem Weg dorthin umrang immer wieder eine Brise frische Luft seine Nase. Er atmete mehrmals tief ein und kam im Bogen zur Küche an. Wieder sah er die Sonnenstrahlen, viele einzelne, die durch das großzügige Fenster hineinkamen. Vor ihm stand sein hölzerner Schaukelstuhl, auf der Anrichte daneben noch eine Kanne Tee. Er setzte sich zufrieden auf das Kissen und schaute aus dem Fenster: eine Aussicht, dergleichen man sicherlich sucht. Jamir hatte Glück, dass seine Eltern vor vielen Jahren im damals neuen Stadtteil eine der ersten waren und ein Grundstück hoch oben am Hang erworben haben. Von dort aus richtete sich der Blick auf das vor dem Stadtteil liegende Tal mit dem Fluß, dahinter sah man den östlichen Ausläufer seiner Stadt. Es folgte ein großes Waldgebiet, reich an alten Baumbeständen und moorähnlichem Boden. Diesen Anblick mochte er von Beginn an und wird ihn bestimmt auch gegen nichts eintauschen, dachte er sich. Jedenfalls hat er noch keinen schöneren Ort gefunden, von welchem man solch eine Aussicht hatte – außer man war direkt in der Natur, im nahen Opalgebirge, wo man immer wieder neue, unentdeckte Orte zu finden vermag.

Jamir wollte die Füße hochlegen, kam aber nicht an den Hocker heran. Ein leichter Wind bewegte die Äste der beiden Bäume, die vor dem Fenster standen. Zwei Vögel saßen auf einem von ihnen, einer hatte wohl gerade neues Futter gesammelt. Sie schauten sich an.

Jamir sah kurz sein Spiegelbild im Fenster: Mit seinen 30 Jahren sähe er älter aus als Gleichaltrige, sagte man ihm nach. Er hatte markante Wangenknochen, vielleicht trug das zu diesem Eindruck bei. Seine dunklen Haare waren am Kopf entlang nach hinten gebunden, ganz der Tradition des Harukai nach, der Phase um den 30. Geburtstag, wenn die Männer und Frauen in Osokur kulturell als erwachsen gelten und eine Familie gründen können.

Er griff nach der Teekanne. Sie durfte noch halb gefüllt sein. Er öffnete sie und roch an der dunkelgrün schimmernden Flüssigkeit: Tee von den Fruchtbäumen unten im Tal, den er mit seinen Nachbarn vor ein paar Tagen gepflückt und verarbeitet hat. Der Tee war nicht mehr ganz frisch, aber sicher noch genießbar. Er goss sich eine Tasse ein und umfasste sie mit seiner rechten Hand. Ein wahrlich glückseliger Moment für ihn.

 

Es klopfte an der Tür. Innerlich schreckte Jamir etwas auf, war er doch in einen leichten Tagtraum verfallen. Er ging durch den geräumigen Flur in die Diele und schaute durch den Vorhang des Seitenfensters neben der Tür. Narit stand mit einem erfreuten Gesicht fast auf seiner Schwelle. Jamir freute sich innerlich. Machte er sich eben beim Tee noch Gedanken um sich und seine aktuelle Lebensphase, so fügte sich dieser Besuch nun nahtlos an seinen Tagtraum an: Narit war seit vielen Jahren ein guter Freund und seine fast immer fröhliche und unerschrockene Art war Jamir und den anderen Freunden nicht nur einmal eine Quelle schöner Momente und Geschichten geworden.

Er öffnete. „Jamir! Was erwartet Dich heute an diesem Tag?“, lachte Narit ihn an und bewirkte mit seinem Ausdruck gleich zweierlei: Erstens steckte seine Freude auch Jamir an und zweitens dachte er an seine Erwartungen an die später beginnenden Festivitäten. „Mit Dir nur schöne Dinge. Ich freue mich, wenn wir später zusammen gehen“, war seine Antwort. „Dachte ich es mir doch. Der versunkene Jamir muss wieder aus seinem Sessel gerissen werden.“ Nicht nur aus dem, dachte sich Jamir.

Beide gingen in die Küche. Narit griff nach der Flasche Fruchtsaft aus dem Kühlschrank. „Fruchtsaft für mich, Tee für Dich. Saft belebt, mein lieber Jamir.“ „Tee auch. Jedem das, was ihm gut tut!“ Beide lachten und schauten aus dem Panoramafenster. „Jamir, heute ist wirklich ein bedeutungsvoller Tag. Nicht nur, dass wir dieses Jahr beide Harukai erreicht haben. Nein, mit dem heutigen Tag scheinen wir auch endlich in Frieden leben zu können.“ „Ja, so ist es und so sei es“, antwortete Jamir. Seine Gedanken kehrten zurück.

 

Heute war neben dem Tag des Harukai zugleich der fünfte Jahrestag des Friedens zwischen Osokur und Petar Lib, eines der nächsten Länder in Richtung Süden. Alles begann im Sommer vor acht Jahren, als einige Anschläge die Städte und Siedlungen in Osokur erschütterten. Es waren mehrere kleinere Terroranschläge, die nicht nur viele Menschen töteten und Unsicherheit brachten, es waren auch Terroranschläge, welche die Bewohner von Osokur sehr veränderten und für die Zukunft sicherlich noch mehr verändern werden. Wenige hundert Osokur waren den Anschlägen bereits zum Opfer gefallen, als auch aus dem benachbarten Delorem die ersten Nachrichten über Tote zu hören waren. Die Osokur waren seit elf Generationen ein friedlich lebendes Volk und kannten auch untereinander nur wenig Konflikte. Sie galten als positiv schauend, wohlwollend geprägte Gemeinschaft und hatten sich mit den benachbarten Ländern fruchtbare Handelsbeziehungen aufgebaut. Ihre soziale und kulturelle Entwicklung galt unter den Wissenschaftlern anderer Länder als Vorbild, war doch wesentlich die demokratische Entwicklung vor elf Generationen bestimmend für ihr Leben.

Die Bewohner von Petar Lib hatten weniger Glück. Durch einen Konflikt mit den Herodonir waren sie wirtschaftlich geschwächt und konnten nur schwer ihren Lebensstandard wieder aufbauen. Weite Teile der Bevölkerung waren mit der Führung unzufrieden, da der Krieg anscheinend unausweichlich war, dennoch aber nicht in einem solchen Maße hätte geführt werden müssen. Unter der Bevölkerung bildeten sich Gruppen, die schließlich auch um die Ressourcen kämpften. Es drohte ein Bürgerkrieg.

avatar
  Abonnieren  
Benachrichtigungen für: